Warum erfahren Menschen mit Behinderungen häufiger Gewalt? Dies liegt unter anderem an ihrer Sozialisation, der Abhängigkeit von Anderen und der besonderen Situation in Einrichtungen der Behindertenhilfe.
Sozialisation
Ein Grund ist die Sozialisation: Als Sozialisation bezeichnet man den Lernprozess und die Entwicklung, die ein Mensch in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt (Familie, Freunde, Gesellschaft, Kultur) durchläuft. (Stangl, 2018).
Menschen mit Behinderungen werden von der Umwelt häufig vor allem als „behindert“ wahrgenommen und nicht als Personen mit eigenen Fähigkeiten. Das wiederum wirkt sich negativ auf die Entwicklung ihrer Identität, ihren Selbstwert und ihr Selbstbewusstsein aus. Diese Faktoren entwickeln sich nämlich in Abhängigkeit von der sozialen Umgebung. Menschen mit Behinderungen werden zudem häufig noch stärker dazu erzogen, sich anzupassen. Deshalb ist es für sie oft schwer, ihre Bedürfnisse auszusprechen oder durchzusetzen. Auch Ihre Geschlechtsidentität tritt oftmals hinter die Behinderung zurück. Nach bestehenden Schönheitsidealen gelten sie zudem als weniger attraktiv, je sichtbarer die Behinderung ist.
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Abhängigkeit von Anderen
Menschen mit Behinderungen sind von der Hilfe und Unterstützung durch andere Menschen abhängig. Diese Assistenz oder Pflege erbringen meistens Familienangehörige, Partner oder Partnerinnen und ausgebildete Pflegekräfte.
Assistenz und Pflege gehen zum Teil mit einer sehr intimen körperlichen Nähe einher. In solchen Betreuungs- und Pflegesituationen – aber auch bei medizinischen Untersuchungen oder therapeutischen Maßnahmen – kommt es nicht selten zu Grenzverletzungen und auch geplanten Übergriffen.
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Einrichtungen der Behindertenhilfe
Viele Menschen mit Behinderungen leben schon seit ihrem Kindesalter in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Auch in diesen Einrichtungen können Übergriffe und Gewalt – auch strukturelle Gewalt – stattfinden.
In Wohnheimen oder Werkstätten gibt es häufig sehr viele Regeln. Diese erschweren ein selbstbestimmtes Leben. Teilweise gibt es noch immer Zweibettzimmer. Viele Zimmer und auch Badezimmer sind zudem nicht abschließbar. Dies erschwert oder verhindert eine Intimsphäre und eine gelebte Sexualität. Immer wieder kommt es in Einrichtungen zu gewalttätigen Übergriffen durch Mitbewohner und Mitbewohnerinnen oder auch durch das Betreuungspersonal. Manche Strukturen der Einrichtungen erleichtern diese Übergriffe und erschweren ihre Aufdeckung. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass sich das Personal und die betreuten Menschen im täglichen Umgang miteinander sehr nah sind. Die Menschen mit Behinderungen sind in vielen Lebensbereichen abhängig vom Personal. Es fällt ihnen schwer, über Übergriffe zu sprechen. Zudem wissen die Mitarbeitenden häufig wenig über den Umgang mit Gewalt, deren Folgen, Handlungsmöglichkeiten, und Präventionsangebote. Unwissen und Unsicherheiten ermöglichen Gewalt und verhindern Aufdeckung.
Das Gute ist aber: Es gibt immer mehr positive Veränderungen. Das Bewusstsein wächst, dass Menschen mit Behinderungen Unterstützung benötigen. In vielen Einrichtungen gibt es bereits Frauenbeauftragte, teilweise auch Männerbeauftragte. Das sind geschulte Menschen mit Behinderungen, die erste Ansprechpartner und -partnerinnen sind. Sie bieten Hilfesuchenden einen Zugang auf Augenhöhe an. Viele Einrichtungen haben zudem Konzepte über den Umgang mit sexualisierter Gewalt entwickelt.